In der Zeit nach Dezember 1989 traten in der rumänischen Gesellschaft und allgemein im postkommunistischenTeil der Welt drei Richtungen eines zu wertenden Rückblicks hervor: Nostalgie, Verdammung und Utopie. Die Nostalgiker, gefühlsbetont ihrer eigenen Jugendzeit zugewandt, leiden - wenn es sich um böse Erfahrungen aus der Vergangenheit handelt -unter erheblichem Gedächtnisverlust. Sie sind mit den „Wohltaten“ des Kapitalismus unzufrieden und schauen klagend auf die „rosarote“, aber illusorische Vergangenheit zurück.
Anderseits verdammen all jene, die sich noch allzu gut an ein tägliches Leben in Angst, Misstrauen, Lüge, Mangelwirtschaft und Resignation erinnern, diese nahe Vergangenheit drastisch und bekunden deren teuflischen Charakter. Denn sogar in den Jahren einer vermeintlichen „Entspannung“ des Kommunismus war das Leben von all dem geprägt. Schließlich stellen wir fest, dass die junge Generation, die diese Diktatur nicht unmittelbar erlebt hat, aber aufgrund ihrer reflexartigen jugendlichen Opposition den Eigentümlichkeiten der älteren Generation widerspricht, die „Ideale“ der linksorientierten Utopie sucht, das Böse verharmlost (das sie eigentlich gar nicht kennengelernt hat), demgegenüber aber die „Entgleisungen“ der postkommunistischen Zeit ausdrucksvoll hervorhebt.
Bezüglich der Kirchengeschichte Rumäniens aus der Zeit des Kommunismus, sind die „Lager“ weniger differenziert. Einerseits gibt es die tapferen Apologeten eines ehrenwerten institutionellen Überlebens (selbstverständlich mit der Bereitschaft gewisse „Kosten“ zu übernehmen) und anderseits gibt es die drastischen Kritiker, für die diese „Kosten“ zu hoch waren und in einer Politik der Kompromisse endeten. Eine solche Politik sei geistig und moralisch inakzeptabel, trotz aller Versuche der Selbst- Rechtfertigung, die von der byzantinischen Tradition einer „Symphonie“ zwischen Staat und Kirche ausgehen. Was sollte man bevorzugen - den vollständigen Niedergang der Institution oder die Rettung dessen was noch gerettet werden konnte?
Was mich betrifft, fällt es mir sehr schwer, meine Erinnerungen und Unschlüssigkeiten richtig einzuordnen. Umso mehr beeindruckt mich die Tatsache, dass die Rumänische Patriarchie die Entscheidung getroffen hat, das Jahr 2017 der Auseinandersetzung unserer Kirche mit der kommunistischen Vergangenheit zu widmen. Lichtgestalten des kirchlichen Widerstandes (beginnend mit dem Patriarchen Justinian) werden in Erinnerung gerufen und neu bewertet. Priestern, die als Märtyrer in den Gefängnissen der Regierung gefoltert wurden, wird eine – wenn auch mitunter teilweise und überschattete – Würdigung zuteil. Gleichzeitig werden auch gewisse, durch das unvermeidbare Zusammenleben mit einem zerstörerischen politischen System entstandene, institutionelle und menschliche Schwächen nicht verschwiegen.
Die Diktaturen werden dadurch gekennzeichnet, dass sie es stets schaffen, das Schlimmste in den Menschen Verborgene zum Vorschein zu bringen: sie verunstalten, führen teuflisch in Versuchung, bringen die Menschen aus ihrem seelischen Gleichgewicht, entwerten sie. Selbstverständlich leben in einer heruntergekommenen Welt die Heiligen zusammen mit den Frevelhaften, die Standhaften mit jenen ohne Rückgrat, die Opfer mit den Henkern. („Heiligkeit und Feigheit“ lautete der bemerkenswerte und mutige Titel eines Streitgesprächs, das im Februar in Iaşi stattgefunden hat und von Priester Professor Dr. Ion Vicovan, Dekan der Theologischen Orthodoxen Fakultät aus Iaşi, moderiert wurde).
Ich kann aber nicht – wie ein Heuchler- über enttäuschende Begebenheiten aus der Geschichte der einheimischen Kirche vor 1989 hinwegsehen. Ich fand kein Gefallen an der Gegenwart kirchlicher Würdenträger in der „Großen Nationalversammlung“1 , am Fehlen einer Reaktion seitens der hohen Geistlichkeit bezüglich des Abrisses bedeutender Kirchen und der Zerstörung der Dörfer. (Ich war fassungslos als ich auf einem diplomatischen Empfang die Antwort eines Bischofs auf die Frage einer Frau aus dem Ausland mitbekam, warum so viele Sakralbauten abgerissen werden. Dieser antwortete der Frau sofort: „Es waren eigentlich zu viele…“). Einmal hatte ich in Paltiniş ein klärendes Gespräch mit dem Metropoliten Antonie Plămădeală. Ich war vielleicht zu verwegen und sprach die oft sehr aufeinander abgestimmte Beziehung zwischen dem kommunistischen Staat und der Kirche an. Ich wurde gebeten „ins Freie“ zu kommen und bekam dann etwa die folgende Antwort: „ Auch ihr, meine Herrschaften, also ihr Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle liefert nicht den Beweis einer besonders kritischen Tapferkeit. Und das geschieht aus ganz kleinlichen Beweggründen: Ihr wollt, dass ein Buch erscheint, dass ihr zu einem gewissen Zeitpunkt einen Reisepass bekommt, dass ihr eine vorteilhafte akademische Position einnehmen könnt. In diesem Sinne ist mein Ziel zurzeit die Restaurierung und die Erneuerung eines Klosters (Sâmbăta). Dafür bin ich tatsachlich zu Zugeständnissen bereit – die noch weiter gehen als jene, die von Euch akzeptiert werden. So verhält es sich mit der Kirche im Allgemeinen: unter den Bedingungen einer drastischen atheistischen Propaganda muss der Geist der Zusammengehörigkeit am Leben erhalten werden, es müssen religiöse Bücher veröffentlicht werden, usw. usw. Darum werden Mittel gesucht, um sich anzupassen, um eine große Zahl dieser Absichten zu erreichen. Ich muss gestehen dass ich, in diesem Zusammenhang, die Reaktion des Metropoliten Antonie nicht befriedigend fand, anderseits hatte ich danach aber die Gelegenheit, ihm unter verschiedenen Umständen für seine Hilfe dankbar zu sein, wobei diese auf seine vorteilhafte „politische“ Positionierung zurückzuführen war. (Ein weniger bekanntes Beispiel ist folgendes: Durch die Vermittlung des Metropoliten Antonie erteilte die „Obrigkeit“ aus Sibiu die Erlaubnis, den verstorbenen Constantin Noica2 gemäß seines Wunsches , in der Nähe des Skit Păltiniş zu begraben.)
Ich erinnere mich an eine lange Reihe von ausgleichenden „Gefälligkeiten“, welche in Folge des „flexiblen“ Verhaltens der Institution Kirche gewährt wurden. All jene, die zu meiner Generation gehörend, religiös eingestellt waren, erinnern sich mit Sicherheit, dass die Herausgabe der Bände der Philokalie3 und die Möglichkeit, diese auf dem „freien“ Markt zu kaufen, für uns ein Fest bedeutete. Dasselbe gilt auch für die wunderbare Reihe „Kirchenväter und kirchliche Schriftsteller“, deren Veröffentlichung im Jahre 1970 begann und bis heute fortgesetzt wird. Wir konnten, schlecht und recht, ungehindert an der Liturgie teilnehmen, wir konnten einen Beichtvater haben ohne folgenschwere Risiken einzugehen, so lange wir nicht durch „feindliche Manifestationen“ auffielen.
Leider gab es aber - jenseits der „schicksalhaften“ Kompromisse - auch unter den Klerikern individuelle Verfehlungen, ohne jegliche gute Absichten und strategisches Kalkül. Es können nicht durchweg alle Handlungen der Priester (wie auch der Laien), entschuldigt werden, die dem Überleben dienten. Ich erinnere mich an eine Aussage, die von Vater Benedict Ghiuş stammt (Doktor der Theologie in Straßburg, „belohnt“ in seinem Heimatland mit sechs Jahren Gefängnis) und von Vater Andrei Scrima oft wiederholt wurde: „Die grausamste Unterdrückung der Kirche ist die Unwürdigkeit der eigenen Diener“. Tatsächlich gab es, und es gibt, wie auch in jedem anderen Bereich, unredliche Diener, wobei festgestellt werden muss: Im geistigen Bereich ist die Unwürdigkeit schuldhafter und gefährlicher. Anderseits gab es auch unzählige verfolgte, inhaftierte, gefolterte und ermordete Priester, über die wir viel zu wenig sprechen. Auch die Kirche selbst sprach bis jetzt darüber mit viel zu wenig Nachdruck und umso erfreulicher ist es, dass sie es nun in diesem Jubiläumsjahr tut. Die Kirche verwirklicht dies vor anderen Institutionen, die auch viel über ihre jüngere Vergangenheit erzählen könnten. (Ich stelle mir z.B. vor, wie interessant ein autokritischer Rückblick der Rumänischen Akademie sein könnte. Dort gab es traurige politische Erfolge die sich das Ziel gesetzt hatten, die Fähigkeiten einer Elena Ceausescu, aber auch anderer weniger berühmter, dafür aber genauso unfähiger „Wissenschaftler“ zu preisen…).
Anderseits stelle ich fest, dass die Tradition einer gewissen Mittäterschaft der Kirche mit dem Staat, in unterschiedlichen Bereichen der Politik, auch nach 1989, also nach dem erfolgten Regierungswechsel und nach Ablauf einer geraumen Zeit, weiterhin Bestand hat. (Erlauben Sie mir eine persönliche Erinnerung. Im Jahre 1990, in Zeiten der allgemeinen Begeisterung, wurde mir vorgeschlagen, Minister für Kultur zu werden. Dieses Ministerium sollte auch die Kulte übernehmen und demzufolge ein „Kultusministerium“ werden. Doch ich war der Meinung, nun ist der „revolutionäre“ Augenblick gekommen: wir müssen die Kirche von einer „Überwachung“ durch Laien, von einer unvermeidbar politischen Kontrolle befreien, die in Zeiten des Kommunismus selbstverständlich war. Ich beeilte mich offensichtlich zum falschen Zeitpunkt zu behaupten, eine solche Unterordnung, ein Ministerium der Kulte, hätte nun eigentlich keinen Sinn mehr. Der schnellste und heftigste Widerspruch gegen meine Absicht kam aber gerade seitens der Kirche, da ein Verzicht auf die Ausübung dieser Aufsichtsfunktion der Regierung als ein Abwenden und ein im Stich lassen ausgelegt wurde …).
Falls ich gefragt werde, wie die gestaltende Gegenwart der Kirche in der kommunistischen Zeit, abgesehen von ihrem „administrativen“ Schlingerkurs, mich selbst geprägt hat, möchte ich zuerst die beeindruckenden Begegnungen mit einigen namhaften Priestern und Theologen erwähnen. Ich hatte während meiner geistigen Entfaltung des Öfteren die Chance, bedeutenden Vorbildern zu begegnen. In diesem Sinne erinnere ich an Vater Benedict Ghiuş, von dem ich eine handschriftliche Aufzeichnung, auf einem Blatt Papier, mit einem Passus aus dem Lateinischen Messbuch aufbewahre: „Laeti bibamus sobriam ebrietatem Spiritus“4 (In Freude werde uns zuteil des Geistes nüchterne Trunkenheit), als auch an Vater Constantin Galeriu, der am meisten beseelte Prediger dem ich zuhören durfte. Ich erinnere mich an Nicolae Steinhardt, den ich vor seinem Eintritt ins Kloster kennengelernt habe und der durch sein - dank der Konvertierung im Gefängnis - gestärktes Gemüt, eine gewinnende, vollkommene Menschlichkeit und eine edle, teilnehmende Heiterkeit ausstrahlte, an Vater Avramescu, der mit seinem Humor und seinem feinen Scharfsinn beeindruckte, an Vater Cleopa vom Kloster Sihăstria, ein Wunder an Weisheit und geistigem Zauber, oder an die männliche Energie des Metropoliten Bartolomeu. In diesem Sinne möchte ich, unter den Vätern meines Alters, auch Vater Iustin Marchiş erwähnen, der mir mit seiner ganzen brüderlichen Liebe begegnete. Zur Zeit der Bewachung meines Hauses durch eine Polizeikontrolle hatte er den Mut mich zu besuchen und das Verbot zu ignorieren. Nach 1989 hatte ich noch das Glück die Stimme der Väter Adrian Făgeţeanu, Arsenie Papacioc, Teofil Părăianu und Ioan von Recea zu vernehmen. Alle vertraten die rumänische Kirche mit Würde, sie hatten unter unverdientem Leid, übergriffigen Demütigungen und ungerechten Beschuldigungen zu leiden. Durch all diese, als auch durch hunderte vielleicht weniger bekannte Opfer, wurde die Ehre der Kirche gerettet und ihre Bestimmung erfüllt. In Anbetracht der außergewöhnlichen Qualität dieser Menschen wird mir bewusst, dass das größte Verbrechen des früheren Regimes darin bestand, eine katastrophale Vernichtung der Werte verursacht zu haben. Seiner Zeit untergeordnet zu sein, diese aber trotz aller Finsternis zu beherrschen, ist unter diesen Umständen eine Leistung die von keiner menschlichen Nichtigkeit verfinstert werden kann.
(Author: Andrei Pleșu. Übersetzung ins Deutsche Günter Pflanzer)
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1. Die Bezeichnung des Rumänische Parlaments zur Zeit der kommunistischen Diktatur
2. Bedeutender rumänischer Philosoph und Publizist , jahrelang politischer Gefangener, zu Zwangsarbeit verurteilt
3. Die Philokalie ist eine Anthologie von Auszügen aus Werken, Sprüchen, Belehrungen von ursprünglich 26, später 38 asketischen christlich orthodoxenSchriftstellern (Altvätern, Wüstenvätern) aus dem 4. bis 15.Jahrhundert
4. Der Vers „Laeti bibamus sobriam / Ebrietatem spiritus“ ist Teil der 6. Strophe des Hymnus Matutinus „Splendor paternae gloriae“ des Heiligen Ambrosius.